Die Bildungspotenziale des Radios


Ich möchte nun die Bildungspotenziale im Zusammenhang mit den Neuen Medien ausarbeiten, da letztere, wie die Interviews gezeigt haben, einen immer höheren Stellenwert bei der Radionutzung einnehmen.
Bei der Betrachtung nach den vier Orientierungsdimensionen nach Marotzki und Jörissen lässt sich zu aller erst nur der Wissensbezug wiederfinden. Das Radioprogramm eines jeden Radiosenders bietet mindestens halbstündig ein Nachrichtenprogramm, das die aktuellsten Informationen zur Politik, Religion und den deutschen Straßen zusammenfasst.
Hinzu kommen einige Sonderprogramme des Radios, die über sämtliche Themen aufklären. Radio SAW bietet hierzu beispielsweise das Programm „Radio SAW deckt auf“. Ein Beispiel ist das Thema Phobien.


Quelle: http://www.radiosaw.de/phobien


Hier wird nicht nur ein kurzer Überblick über das Thema gegeben, es wird auch gleichzeitig auf die Homepage des Radios verwiesen, auf der der Zuhörer bei Interesse noch mehr Informationen nachlesen kann. Damit wird schon gleich zu Beginn ein enger Zusammenhang zwischen Radio und Internet deutlich.
Doch bleiben wir zuerst bei der Audio. Die Sprache bzw. der Aufbau der Aufnahme bietet schon strukturelle Besonderheiten, die den Hörer anregen können, sich mit der Thematik „Phobien“ genauer auseinandersetzen zu wollen. Die Autoren Flach und Lynen (2011) bezeichnen diese als eine Form des „Gefühlsmanagement“ (ebd., 45). Das Prinzip hierbei ist, dass alle Sinneskanäle, also das Hören, das Riechen, das Schmecken, das Sehen und das Fühlen beim Zuhörer wach gerufen werden. Dies ist aufgrund des Erfahrungsschatzes eines Menschen möglich. Beschreibt der Sprecher des Radios den Geschmack und die Farbe zum Beispiel einer Erdbeere, hat sofort jeder Zuhörer ein Bild und einen Geschmack vor Augen. Die Schwierigkeit liegt nur beim Sprecher allein, diese schon vorhanden Erfahrungen durch die richtigen Impulse wach zu rufen. Die passende Sprache ist dabei von entscheidender Bedeutung. Sie muss nicht nur klar und deutlich, sondern auch zum Wortinhalt passend gewählt sein.
In meinem Beispiel hat der Sprecher einen sehr lustigen bzw. ironischen Sprachstil gewählt, also die Theorie lustig verpackt. Das führt alleine dazu, dass der Zuhörer eher gewillt ist, die gesagte Theorie aufzunehmen, da er durch die Sprache einen gewissen Spaß dabei assoziiert. Hinzu kommt, dass der Moderator sehr bildhafte Beispiele gewählt hat, mit denen jeder Mensch schon einmal eine Erfahrung gemacht haben könnte. So kann sich beispielsweise fast jede Person vorstellen, wie Erdnussbutter aussieht, und wie es sich anfühlt, etwas Klebriges am Gaumen kleben zu haben. Es werden also neben dem Hören auch der Sehsinn, der Tastsinn und der Geschmackssinn angesprochen.
Die Autoren Flach und Lynn sprechen jedoch noch einen weiteren wichtigen Faktor an, der dazu beiträgt, die Zuhörer an den Sender oder Inhalt zu binden. Sie bezeichnen es als „die Dimension der Selbstoffenbarung. Hier stecken verborgene Werte, Emotionen und Triebe. […] Sie machen zwischenmenschliche Kontakte und Kommunikation im Radio – wie im Leben – spannend, aber auch sehr anfällig für Störungen“ (ebd., 48). Gemeint ist damit vor allem, dass der Sprecher nicht nur von seinem Thema berichtet, sondern auch ein bisschen von sich selbst mit einfügt.

„Wer keinen Draht zum Publikum aufbaut, wer nichts von sich preisgibt, nicht zwischen den Zeilen sendet, wer dafür keine Freiräume hat, der wird im Wettbewerb der Mediengattungen und insbesondere in jüngeren Zielgruppen nur als neutraler Funktionsträger und damit als langweilig wahrgenommen“ (ebd., 49).

Das entscheidende ist dabei, einen engen Kontakt zu seinem Zuhörer aufzubauen, auch bezeichnet als Parasozialität. Der Sprecher wirkt dabei wie ein virtueller Freund für den Radiohörer und gibt diesem das Gefühl mit dabei zu sein, obwohl er es in Wirklichkeit gar nicht ist. Bei meinem Beispiel mit den Phobien hat der Moderator es damit gelöst, dass er darauf eingeht, was für Phobien zu ihm selbst passen können oder nicht. Das macht er jedoch auf keine beschreibende Weise, sondern auf eine sehr emotionale, beispielsweise als er sich vor den Nacktmullen ekelt.
Der Zuhörer befasst sich somit auf humorvolle Art und Weise mit einer doch eher trockenen Thematik und wird auch noch einmal am Ende der Audio von dem Sprecher dazu animiert, sich auf der Homepage weiter zu informieren und vielleicht ähnliche Emotionen zu erleben. Dem Radiohörer wird nie vermittelt, zu einer solchen Wissensaufnahme gezwungen zu sein.
Viele beliebte Radiosprecher versuchen sogar einen noch engeren Kontakt mit ihren Hörern aufzunehmen, indem sie sich bei speziellen Events auf der Bühne, oder bei eigenen Programmen auf der Straße präsentieren und mit den Menschen interagieren. Ein gutes Beispiel hierfür ist Holger Tapper von Radio Brocken. Dieser geht zu bestimmten Zeiten auf die Straße und interviewt zufällig ausgewählte Personen zu einem bestimmten Thema, in diesem Fall, was der Glühwein mit den Menschen auf dem Weihnachtsmarkt macht.


Quelle: http://www.radiobrocken.de/mediathek/audios/tappers-woche-1


Diese Interviews werden dann in die Radiosendung übernommen. Damit baut der Sprecher wieder eine besondere Bindung zu seinen Hörern auf, die sich mithilfe dieses Programms noch mehr mit einbezogen fühlen. Auch das kann dazu animieren, sich die aktuellen und späteren Themen von diesem Sprecher genauer anzuhören und diese dann für sich selbst zu reflektieren.
Eine andere Variante wird mithilfe des Internets genutzt. Die Nachrichten, die meistens halbstündig vermittelt werden, können oftmals auch auf der Homepage des Senders selbst oder in sozialen Netzwerken, wie von Frau Wasian angesprochen Facebook oder Twitter, nachgelesen werden. Auch hierzu ein kleines Beispiel: Zu den diesjährigen Länderwahlen wurde im Radio immer öfter versucht, die Zuhörer zum Wählen zu animieren. Diese Thematik hat Radio SAW zum Beispiel auch auf seiner Facebook-Seite mit eingebracht, zu der sich die Zuhörer oder andere Interessierte der Radio SAW-Community äußern konnten.




Diese sozialen Netzwerke im Internet bieten dem Hörer auch hier wieder ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl, indem jeder seine eigene Meinung zu einem bestimmten Thema artikulieren darf. Diese, wie bei Marotzki und Jörissen angesprochene mediale Artikulation, hilft dem Rezipienten dabei, seine eigene Meinung und die der anderen Personen zu reflektieren. Indem sich Radio SAW zu den Ansichten der einzelnen Hörer äußert, bezieht der Sender sie nicht nur mit in die Thematik ein, er animiert gleichzeitig auch dazu, die eigene Meinung zu stärken oder zu überdenken. In dem Beispiel zeigt sich das damit, dass der Radiosender sehr ironisch auf den Kommentar von Mike reagiert, als dieser beschreibt, dass er lieber Playstation spielt als wählen zu gehen. Radio SAW regt ihn an darüber nachzudenken, dass auch diese Beschäftigung durch seine Wahlverweigerung beeinträchtigt werden könnte, ohne ihn jedoch direkt zum Wählen zwingen zu wollen.
Bei dem Kommentar von Michael, der definitiv wählen gehen möchte, bestärkt der Radiosender dessen Meinung.
In dem letzten Beispiel von Thomas und seinen Eltern regt Radio SAW dieses Mal sogar direkt zum Wählen an, um Probleme, wie das beschriebene, später vielleicht vermeiden zu können.
Tiefgründiger möchte ich gar nicht auf die sozialen Netzwerke der Radiosender eingehen. Meine Intention war es, zu verdeutlichen, dass eine Digitalisierung, so wie Bertolt Brecht sie damals angestrebt hat, schon zum Teil stattgefunden hat, indem sich der Zuhörer mithilfe des Internets immer öfter in die Diskussionen beim Radio einbringen kann. Diese mediale Artikulation beinhaltet sogleich Bildungspotenziale, da sich die Rezipienten untereinander und mit dem Sender austauschen und ihre eigenen und anderen Meinungen reflektieren können.
Neben dem Internet bieten manche Radiosender auch sogenannte Talks in ihrem Programm an, zu denen die Zuhörer sich auch telefonisch zu einigen Themen und Ansichten äußern können.
Eine andere Möglichkeit ist die dialogische Form eines Radioprogramms. Beispiele hierfür sind Interviews mit bekannten Personen, Wissenschaftlern oder Politkern, sowie Doppelmoderationen. Diese Programme bieten dem Zuhörer weitere Impulse des Gefühlsmanagement, indem Meinungen aneinander reiben, Überraschungsmomente auftreten und Emotionen der Teilnehmer vermittelt werden. Diese Impulse können den Zuhörer ebenfalls wieder anregen, sich mit einer bestimmten Thematik zu befassen.
Neben diesen vielen sprachlichen Angeboten wird bei den meisten Sendern die Sendezeit natürlich mit Musik gefüllt. Doch auch diese kann, richtig gewählt einzelne Themen unterstützen, indem sie auf die Emotionen der Zuhörer eingeht.
Das Internet bietet zudem nicht nur die sozialen Netzwerke, sondern auch zunehmende Möglichkeiten, sich seinen eigenen Radiosender nach Geschmack und Wünschen, zum Beispiel mithilfe von Podcasts, zusammenzustellen. Dadurch ist es dem Hörer möglich, aktiv zu entscheiden, welche Informationen er gerne hören möchte und welche nicht.
Zu aller erst, wird das Radio jedoch, wie die Studien gezeigt haben, und in den Interviews deutlich wurde, ein Nebenbeimedium bleiben. Neben der Arbeit, dem Autofahren, oder dem Duschen wird es weiterhin parallel genutzt werden. Doch genau das ist auch seine Stärke und trägt zu Bildungspotenzialen bei. Die Hörer versuchen, sich mit dem Radio von ihren alltäglichen Handlungen abzulenken und ein wenig zu entspannen. Die Erfahrungen, die sie mithilfe den Moderatoren und den sozialen Netzwerken machen, machen sie nicht, weil sie dazu gezwungen werden, sondern weil sie sich selbst dazu entscheiden. So werden sie aktiv und nebenbei zum Reflektieren von Informationen und dem Aufbau von Bildung angeregt.

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